Rolf F. Nohr schlägt vor, Strategiespiele in ihrer medienspezifischen Funktionsweise und hinsichtlich ihrer kontextuellen Bedeutungsproduktion zu analysieren (vgl. Nohr 2008). Strategiespiele gehören zu den ältesten und beliebtesten Genres der Computerspiele und zudem in Deutschland zu den Umsatzstärksten Produkten der Games Industrie (vgl. Nohr 2008). Die Grundannahme von der hier ausgegangen werden soll ist, dass Strategiespiele eine spezifische Form der Wissensvermittlung betreiben, welche genretypisch und strukturell generalisierbar ist und auf viele andere Formen der digitalen Spielkultur übertragbar ist.
Computerspiele sind Kulturtechniken welche nicht aus ihrem Kontext, ihrer umgebenden Kultur oder dem hervorbringenden gesellschaftlichen Wissen isoliert betrachtet werden können. Bezüglich der Strategiespiele weist Nohr darauf hin, dass der Diskurs der sich in diesen spielen materialisiert eng verknüpft sei mit außer- spielerischen Strategiediskursen (vgl. Nohr 2008).
Auch stellen historische Brett- und Kriegsspiele eine erkennbare Bezugsgröße für moderne, digitale Strategiespiele dar (vgl. ebd. S. 159). Neben der Funktionsweise von Strategiespielen besteht eine andere Notwendigkeit darin, diese in ihrer genealogischen Eingebundenheit in unspezifische, dynamisch variable Wissensformationen einer Gesellschaft und Kultur zu betrachten, auch um die jeweils spezifische kontextuelle Bedeutungsproduktion zu verstehen (ebd.). Neben dem Regelsystem, der rein operationalen Symbolmanipulation, sind Strategiespiele auch durch eine implizite Narration gekennzeichnet (vgl. Bateson 2007). Diese, laut Nohr, Überformung des Regelsystems und ihrem Strategischen Diskurs führe dazu, dass gegenüber dem klassischen Schachspiel die thematische, auch realitätsbezogene aber reduzierte Einbettung der erlernbaren und einzuübenden Siegbedingungen einhergehen mit der Vermittlung von Wissen.[1]
Betrachtet man den Aspekt der Wissensvermittlung z.B. hinsichtlich des Schachspiels so spiegelt das Kräfteverhältnis des Spiels die gesellschaftliche Hierarchisierung hinsichtlich der Wertigkeit der Figuren, vom Bauer bis zum König wieder. Laut Nohr lagert sich das Wissen eines Spiels an die Wissensstrukturen der Gesellschaft an, bzw. speist sich aus diesen. Spiele sind Teil eines subjektiven gesellschaftlichen Wissens und das in einem Strategiespiel artikulierte Wissen wiederum prägt den gesellschaftlichen Diskurs über Strategie mit. Diese Prozesse der Bearbeitung und Zirkulation von Wissen finden im Verborgenen statt, da sie dem Spielenden als selbstverständlich und natürlich vorkommen vor dem Hintergrund der eigenen Sozialisation.
Um der Art und Weise wie Computerspiele ihr Wissen transportieren vermitteln und gewinnen näher zu kommen hilft, so Nohr, ein historischer Rückgriff da Wissenssystematiken sich ihrer Natürlichkeit erst in der zeitlichen Distanz entkleiden und erst dann die Möglichkeit bestehe die Strukturen und Funktionalismen analytisch offen zu legen. Die Versinnlichung von Wissen ist laut Nohr bereits in historischen Strategie-Brettspielen tradiert (vgl. Nohr / Wiemer 2008). Nohr geht im Folgenden auf die Weiterentwicklung des klassischen Schachspiels ein und stellt 2 Varianten vor, welche exemplarisch den jeweiligen Kontext des Wissensbestandes der Zeit verarbeiten. Dies ist zum einen das 1780 von dem Braunschweiger Mathematiker Hellwig entwickelte „Kriegsspiel“ welches Kernelemente Kriegerischer Auseinandersetzungen, genauer militärische Eroberungen Simulieren soll und mit der Einnahme der gegnerischen Festung endet.
Das Raumparadigma heutiger Strategiespiele scheint sich zudem genealogisch aus diesen militärstrategischen Spielen und Simulationen abzuleiten. Der Originaltitel des von Johann Christian Ludwig Hellwig erfundenen Kriegsspiels lautet ‘Versuch eines aufs Schachspiel gebaueten taktischen Spiels von zwey und mehreren Personen zu spielen“ stellt dieses direkt in die Tradition des Schachspiels. Der sinnvolle Einsatz, die Koordination und Versorgung der verschiedenen Truppenteile steht hierbei im Vordergrund. Die Verwendung zeitgenössischer militärischer Einheiten bildet das als natürlich empfundene Fundament gesellschaftlichen Wissens. Das Spiel diente zur Ausbildung junger adliger und wurde bei Hofe und in Militärschulen verwendet. Das Spiel setzt auf eine Didaktik der Versinnlichung des abstrakten, strategischen und taktischen Wissens, dass zu vermitteln gilt. Laut Nohr u.a. (vgl. Nohr/Wiemer/Böhme 2010) ist dies eine Didaktik der Naturalisierung von abstrakten Lehrinhalten ähnlich der zu dieser Zeit üblichen philanthropischen Didaktik.[2]
‘Die Versinnlichung dient einerseits der Erkenntnis […] und andererseits der Vermittlung, also der Illustration und der Anschaulichkeit durch Bilder[…]. (Nohr/Wiemer 2008, S.154)
Die „Natürlichkeit“ und „Sinnlichkeit“ steht für Hellwig im Vordergrund seiner Modellbildung. Einen didaktischen Vorteil sieht dieser im Vergleich mit üblichen Materialien wie Literatur und Schaubilder. In seinem „Kriegsspiel“ sieht Hellwig den Vorteil darin, dass die Wahrheiten des Krieges und der taktisch-strategischen Kriegsführung ihre Bestätigung im Spiel selbst fänden (vgl. Nohr 2008c).
„Der Endzweck eines taktischen Spiels ist, das wesentliche der wichtigsten Auftritte des Krieges sinnlich zu machen. Je genauer die Natur dieses Gegenstandes nachgeahmt wird, desto mehr wird sich das Spiel seiner Vollkommenheit nähern.“ (Hellwig 1780, in: Nohr 2008b, S.99) Ähnlichkeiten scheinen zwischen der Didaktik Hellwigs und den Ausführungen Clausewitz’ zur Kriegskunst zu bestehen. Hellwig setzt das strategische Spiel mit dem „politischen“ ins Verhältnis. Im Sinne des bekannten Diktums Clausewitz’ „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ (Vom Kriege I, 1, 24, in: Nohr/Wiemer 2008, S.34)
Beim Hellwigschen’ Kriegsspiel geht es weniger um das Schlagen von Figuren wie beim klassischen Schachspiel, sondern um Aspekte der Raumbeherrschung. Laut Nohr vereint das Spiel Hellwigs zwei Funktionsebenen, die sich bis heute in Strategiespielen manifestieren: „…die Idee den Raum selbst zur dominanten Handlungsebene zu machen, und die Idee einer spezifischen Didaktik, die darauf setzt im Sinne einer aufklärerischen Pädagogik abstrakte Ideen durch das Angebot des spielerischen Nachvollzugs sinnlich auszuhandeln.“ (Nohr 2008c, S.11)
Ein anderes, auf eben diesem Prinzip der Versinnlichung basierendes Strategiespiel ist das 1910 vorgestellte „Floor Game“ von H. G. Wells. Anders als das „Kriegsspiel“ ist dies an männliche Kinder und Erwachsene gerichtete Spiel nicht für einen Einsatz an Militärakademien oder Höfische Bildungseinrichtungen gedacht, sondern für das heimische Wohnzimmer. Das Spiel fördert Geschicklichkeit und Körperempfinden (es muss mit einer Gummizugkanone auf gegnerische Zinnfiguren gezielt werden) und setzt im Gegensatz zum Regel Algorithmus einer Stärketabelle auf Geschicklichkeit und Zufall. Im Mittelpunkt der Spielerfahrung steht die körperliche Beteiligung des Spielers. Aber auch hier findet eine Versinnlichung statt. Die Entwicklung des Kriegsspiels wird als eine subjektive Erfahrung des Spielens, eine selbstständig sich ergebene Steigerung der Komplexität, und das Regelwerk des Spiels als eine „natürliche“ Rationalisierung desselben betrachtet.
Wells trägt so den pädagogischen Prämissen seiner Zeit Rechnung. Das spiel dient nicht mittelbar der Ausbildung des Kriegshandwerks, sondern ist eine Form des sozial eingebetteten, spielend erfahrenen Handelns und damit eher der humanistischen und pazifistischen Tradition, welche im frühen 20.Jahrhundert bereits anzutreffen war, verpflichtet. Laut Nohr setzen sowohl Hellwig und Wells auf eine Internalisierung eines spezifischen Wissens im Spiel. Beide zielen darauf ab, mit diesem Spiel bestimmte Werthaltungen und Handlungsformen Versinnlichen zu können. Beide eint ein Konzept von angenommener Spiel-Wirkung in der Wissen institutionalisiert werden kann um intendierte Werthaltungen zu vermitteln. Beide Autoren, so Nohr, entwerfen eine Idee des symbolischen Probehandelns innerhalb dessen der Spielende eine naturalisierte (unsichtbare) Form ideologischer Werte im strategischen Handeln internalisieren soll.
Der enge geschichtliche Zusammenhang von aktuellen Computerstrategiespielen mit ihren historischen Vorläufern, den militärischen Simulationsprogrammen und Kriegsbrettspielen wurde im vorigen Abschnitt deutlich. Welche Narrative, Muster und Wissen Systeme innerhalb dieser Spiele codiert sind und in welchem Maße diese sichtbar werden ist von großem Interesse. Strategiespiele als Konfliktsimulationen zu bezeichnen ist aus dem Grund legitim da dies meist das zentrale Motiv dieser Spiele darstellt. Kaum eines dieser Spiele, welche ganz oder teilweise dem Genre der Strategiespiele zuzuordnen sind, kommt ohne die bewaffnete Auseinandersetzung aus. Nohr spricht hierbei von einem „Master Narrative“, egal ob es sich um taktisch angehauchte Ego-Shooter, Zivilisationssimulationen, Aufbauspiele oder Wirtschaftssimulationen handelt (vgl. Nohr 2008b). Selbst wenn man nicht von militärischen Auseinandersetzungen sprechen kann, so geht es doch zumeist um ökonomisch kontinuierte Konfliktmodelle. Neben territorialen Konflikten, geht es bei Städtebausimulationen wie Sim City, Transport Tycoon o.ä. Vertretern ihrer Art um das aneignen von unbebautem Raum, um dessen Umwandlung in Kulturraum. Der Naturzustand sorgt hierbei für Konfliktpotential, in Form einer Verknappung ausgebeuteter Ressourcen oder durch zufällig entstehende Naturkatastrophen oder nachträgliche, im Spielverlauf erzeugte industrielle Verschmutzung der Umwelt.
Die „Civilization“ Serie stellt eine Mischform dar. Hier geht es um Aufbau, Ausbeutung der Ressourcen, Ressourcenmanagement, territoriale Konflikte, kulturelle als auch militärische Überlegenheit. Jedes Mittel ist recht, um sich gegenüber den anderen Parteien durchzusetzen. Diese beiden Arten der Konfliktsimulation (Aufbau / Krieg) sind in dem Sinne als politisch zu verstehen als das es gilt Raum zu erobern, Ressourcen zu verwalten und ggf. Gegner zu vertreiben. Politik ist hier, laut Nohr, als Handlung im Raum kodiert (vgl. Nohr 2008c). Ebenso wird die These aufgestellt das die in Strategiespielen vertretene Koppelung von Raum und Politik nicht beliebig verfährt, sondern diese im Sinne einer politischen Kunstlehre, der Geopolitik, vornimmt (ebd.).
Wenn Grenze und Raumordnung als primäre Bezugsgrößen der Geopolitik anzusehen sind so stellt sich auch die Frage nach der Kultur oder dem Kulturraum. Das materialistische Modell der Geopolitik versteht Kultur als einen biologistischen Verbund homogener Subjekte. Der aus der Biologie / Ökologie entnommene Begriff der „Lebensgemeinschaft“ prägte eine Denkweise welche vor allem in der deutschen Geopolitik zur Maßgabe werden sollte. Von der „Lebensgemeinschaft” war es ein kleiner Schritt zur „Volksgemeinschaft“. Die sozialdarwinistische Ideologie war Werkzeug eines imperialistischen und totalitären Herrschaftssystems. Ähnlich dem Missbrauch der Evolutionstheorie wurde der Begriff der Lebensgemeinschaft aus dem biologischen in einen sozialen Kontext überführt und diente fortan der Legitimation einer räumlich bestimmten Politikform, die ihre drastischste Form in der Durchsetzung der „Lehre von Blut und Boden“ im NS-Deutschland angenommen hatte.[3]
Nach der Zeit des Nationalsozialismus rückte die Betrachtung von geographisch-topologischen Räumen in den Hintergrund. Die Rückbesinnung fand vor allem innerhalb des „spatial Turn“ der Kultur- und Geisteswissenschaften statt. Neben der Zeit wurde auch der Raum wieder ins Zentrum kulturwissenschaftlicher Untersuchungen gestellt. Betrachtet man die Motive, Spielziele und Handlungsanweisungen aktueller Strategiespiele, so könnte man annehmen, dass diese eher einer alten Tradition einer klassischen Geopolitik verpflichtet sind.
„Computerspiele vermitteln Denkstrukturen, indem sie den Nutzer dazu bringen, die Programmlogik zu internalisieren.“ (Friedmann 2003 in Galloway 2007 S. 276)
Friedmann sieht hier klar die Spielmechanik im Vordergrund, dazu ein Nachtrag am Ende dieses Kapitels.
[1] Bezogen auf die digitalen Vertreter moderner Strategiespiele ist besonders die Command & Conquer Serie hervorzuheben, welche dem Genre der Echtzeitstrategiespiele in den frühen 1990er Jahren zum Durchbruch verhalf. Diese Serie etwa vermittelt Wissen über Waffengattungen, Raumtaktiken des Bewegungskrieges und zusätzlich, betrachtet man den Serienableger „Red Alert“, wartet es mit einer alternativen Geschichtsschreibung auf welche in einer fiktiven Ära des kalten Krieges angesiedelt ist.
[2] Ähnliches gilt in historisch adäquater Form Z.B. auch für die „Total War“ Reihe in der spezifische Information über Militärtechnik, Nutzung von Ressourcen, Kriegstaktiken und regionale, Naturräumliche Begebenheiten der Siedlungsräume der jeweiligen Völker und Nationen vermittelt werden. Der historische Bezug, die selbstreferentielle Einbettung in die Spielehistorie wird auch dadurch deutlich, dass es sich bei dem Spielfeld um die virtuelle, stilisierte Darstellung eines Tisches mit Spielbrett handelt welches in vor- digitalem Zeitalter üblich war.
[3] Von den 1920er Jahren bis 1945 wird diese Koppelung von biologistischem Kulturbegriff und territorial motivierter Politik als »Lehre von Blut und Boden« oder als vorgebliches Wissen vom »Großraum« nachhallen. Hans Grimms populärer Roman »Volk ohne Raum« wird in Deutschland als Legitimation für die »naturrechtliche« Expansion Deutschlands in den ihm angestammten »Großraum«, »Kulturboden« und »Lebensraum« gelesen. Geopolitiker wie Friedrich Ratzel, Karl Haushofer und Rudolf Kjellén arbeiten an der Etablierung der Geopolitik als pseudowissenschaftlicher Lehre über den Staat als geografischen Organismus oder Erscheinung im Raum. Und genau hier, am Übertritt der Grenze zwischen politischer Geografie und Geopolitik ist die Scheide zwischen wissenschaftlicher Forschung und praktisch-propagandistischer Anwendung definiert.