Eskapismus im Zeitalter virtueller Kulturlandschaften

Die Freude am Eskapismus ist fester Bestandteil der Gegenwartskultur und in allen post-industriellen Gesellschaften zu beobachten. Je mehr der Mensch durch Technisierung und Diversifizierung der Arbeit und Lebensweise vorindustrielle Strukturen ersetzt wurden, desto stärker wird das Bedürfnis nach Überschaubarkeit und Kontrolle. Die Vergangenheit wird zu einer Projektionsfläche für Bedürfnisse unserer Gegenwart und verklärt als authentischer empfunden.Die Anfänge dieser Geisteshaltung sind in der Epoche der Romantik zu verorten und als Gegenbewegung zu einer immer rationaleren, wissenschaftlichen Sicht auf die Welt zu suchen.Literatur und Film waren stets die Ausdrucksform einer solchen Vergangenheitsrekonstruktion. Eines der einflussreichsten Werke moderner Literatur des 20. Jahrhunderts sind die Bücher Tolkiens, seinen von alten Sprachen und nordischen Mythen inspirierten Fantasy-Welten. Tolkien war es ein Anliegen, durch das Erzählen dieser Sagen eine Lücke zu schließen welche  durch die Lebensumstände moderner Industriegesellschaften entstanden war.[1] Da verwundert es auch nicht weiter, dass er selbst den Vorzügen einer modernen und bequemen Lebensweise kritisch gegenüber stand und diese ablehnte. Auch versuchte er durch die Neuinterpretation von Sagen und Mythen an ein vor-normannisches England anzuknüpfen und so den Menschen einen Teil ihrer Traditionen wiederzugeben (vgl. Hall 2012). Es entwickelte sich daraus ein ganzes Universum an Fantasy-literatur und Filmen, bei welchen die Nähe zu Tolkiens Werk stets erkennbar blieb. Auch entwickelten sich in den 1970er Jahren daraus Spielideen, die sog. Pen & Paper Rollenspiele, welche auch die Grundlage für die heutigen computerbasierten Rollenspiele darstellen. Zentrales Element dieser Spielrunden war stets der Erzähler. Er gab den narrativen Rahmen vor und achtete auf das Einhalten der Spielregeln. Innerhalb dieses Rahmens konnten die Spieler sich, entsprechend der Rollen ihrer Charaktere, frei entfalten.Viele Grundelemente späterer Computerrollenspiele basierten auf diesem Spielgefühl. Der Computer achtete fortan auf das Einhalten der Regeln und gab den narrativen Rahmen vor. Mit dem fortschreiten der Computertechnik wurden die Welten immer größer und detailreicher. Das Narrative war immer mehr im Arrangement, der Beschaffenheit der Welt selbst zu suchen. Die visuelle Leistungsfähigkeit moderner (Spiele-)Hardware bietet umfassende Möglichkeiten einer kreativen Gestaltung von Welten. Die Tatsache das der Nutzer als Teil der Welt diese auch mittragen kann ist ansatzweise gegeben steckt jedoch noch in den Kinderschuhen. Trotzdem laden die Welten zum Austausch und zur gemeinsamen Exploration ein. Ein „environmental storytelling“ welches auf realistischen Konstruktionen beruht erlaubt  es Spuren den Welt und des Handelns zu entziffern, gleichsam Projektion für eigenes Spielhandeln zu sein und, betrachtet aus der Beobachterperspektive, das gesamte geschehen inklusive online Interaktionen Dokumentieren zu können. Das ist die archäologische Dimension.

Cornelius Holtorf hinterfragt in seinem Aufsatz (vgl. Holtorf 2001b) die Herangehensweise an archäologische Exkursionen, meist die welche im Rahmen des Lehrbetriebs angeboten werden. Löst man den Apell Holtorf’s aus diesem Kontext lässt sich sehr gut darstellen wie ergiebig die Betrachtung virtueller Computerspielräume sein kann. Unter Berücksichtigung der Prämissen Holtorfs, kann auch ein Spiel wie „The Elder Scrolls V: Skyrim“ als virtueller Kulturraum betrachtet werden. Das Interface und die Spielmechanik sind Werkzeuge im Sinne von Kulturtechniken (vgl. Holtorf 2007). Auch hier ist Wissen in spezifischer Form zugänglich gemacht worden. Man muss es sich nur erarbeiten bzw. erschließen. Man kann in gewisser Weise die Begehung eines virtuellen Raumes auch als Bildungsreise begreifen. Man muss sich nur darauf einlassen und entsprechend planen. Und genau darum geht es Holtorf in seinem Text; auch mit Verweis auf Shanks soll eine archäologische Betrachtungsweise vermittelt werden. In vielen Computerspielen kann der Spieler diese Perspektive einnehmen.

Shanks Ausruf:   ‘We are all Archaeologists now“ (Shanks 2014),  ist auch in dem Sinne zu verstehen das wir alle Archäologen sein können, wenn wir die Welt auf eine spezifische Weise erfahren wollen. Das gilt auch für Computerspielwelten. Wer Archäologe sein möchte, kann in vielen Spielen zumindest so tun. Anhand von Computerspielen wie „The Elder Scrolls V: Skyrim“ kann man beobachten, dass Menschen sich fiktives historisches Wissen erarbeiten auf der Grundlage der materiellen Objekte der Spielwelt und ihren Bauwerken und Monumenten. Natürlich können Spiele auch Inspirationsquelle sein sich für Geschichte und reale Exkursionen zu begeistern. Auch die private Initiative eine historisch korrekte Modifikation zu entwickeln (die lokale Sehenswürdigkeiten in ein Spiel integriert) ist Teil dieser Auseinandersetzung. Es ermöglicht anderen Spielern auf „Exkursion“ zu gehen.

Integriert man die zahlreichen historisch akkuraten Modifikationen in das Hauptprogramm und ersetzt die fiktionalen Elemente mehr und mehr durch historisch korrekte Rekonstruktionen wird klar wie viel Potential diese virtuellen Bildungsreisen steckt. Das Verlangen nach Geschichte(n) und die Bereitschaft spezifische Denk- und Handlungsweisen anzunehmen und im Spiel umzusetzen scheint prinzipiell möglich. Die hohe Nachfrage an Titeln wie „World of Warcraft“, „The Elder Scrolls V: Skyrim“, und „Civilization 5“ im allgemeinen, und die rege Beteiligung der Community und Modding Szene im Besonderen ergänzen die Arbeit der Entwickler. Zum Thema virtuelle Bildungsreisen möchte ich noch anmerken das in den o.g. Spielen tatsächlich Museen und Ausgrabungsplätze existieren.

Tomas Brown hat einen Artikel veröffentlicht welcher sich mit der Funktion von Museen in vier verschiedenen Spielen auseinandersetzt (vgl. Brown 2015).Das gezielte ansteuern von Sehenswürdigkeiten bietet die Möglichkeit das Spiel als eine Art Bildungsurlaub zu erfahren. Fern von Kampf [2] und Arbeit[3] kann man die Landschaft genießen und Museen besuchen. Die Erfahrung der Spielwelt wird so um einiges intensiver, weil es Handlungen sind die keinen Spielfortschritt generieren und u.a. der Atmosphäre zuträglich sind und die Identifikation des Spielers mit der Spielwelt positiv unterstützen. Spiele bieten demnach ein Erfahrungspotential, welches unabhängig sein kann vom Spielfortschritt. Es ist wichtig die Spielumgebung als Ganzes zu betrachten. Die Landschaft selbst erzählt ihre Geschichte.

„But the landscape is more than a ‚catchment area‘ filled with different sorts of resources. It is full of meaning and cultural significance“

(Bender 1993 / Tilley 1994 In: Holtorf 2001, S.84).

Computerspiele sind arrangierte Landschaften[4], jedoch leben die Spiele von der Komposition durch die sich Wirkung entfaltet. Die Beziehung einzelner markanter Plätze zu ihrer Umgebung und die Distanz dieser zueinander stehen im Zusammenhang mit der Interpretierbarkeit einer Computerspielwelt. In Spielen entfalten sich virtuelle Kulturlandschaften, je nach Belieben auch mit Moderation, folgt man den narrativen Elementen oder nutzt im Spiel integrierte Wissensdatenbanken. Virtuelle Kulturlandschaft und die Spurensuche stehen in Verbindung. Das Spurensuche-Paradigma hat seine Wurzeln bei Ginzburg (Ginzburg 1995) und stammt aus einem kunsthistorischen Kontext. Hier konnten Bilder durch eine Merkmalsanalyse den jeweiligen Künstlern zugeordnet werden. Spiele sind auch ein Medium der Kunst. Nur werden hier die Spuren gedeutet um die Welt begreifbar zu machen und die Geschichte zu entfalten, aber auch um Rätsel zu lösen. Im Game Design wird der Begriff  „environmental storytelling“ verwendet. Es handelt sich um Botschaften welche welche sich durch betrachten der (arrangierten) Umgebung entschlüsseln lassen, ähnlich eines Tatorts und dessen Betrachtung anhand kriminalistischer Methoden.[5]

Der Spieler ist auch eine Art Detektiv. Handlungsanweisungen erklären sich alleine durch die Interaktion mit der Umgebung, durch das Erkennen der versteckten Aufforderungen. Der Bogen spannt sich zur Archäologie weil der Spieler wie der Archäologe einen menschenleeren[6] Raum betritt, der jedoch auf menschliches Schaffen zurückgeht und in der Vergangenheit fertiggestellt wurde. Der Spieler folgt durch das Spielen der Spur der Künstler und muss interpretativ und explorativ vorgehen um auf dem richtigen Weg zu bleiben.Einen ganz anderen Beitrag zur Erinnerungskultur und hinsichtlich von Spuren vergangenen menschlichen Lebens stellt der Tot von Spielern da. Die Accounts von verstorbenen Spielern werden teils durch Angehörige wiederentdeckt und auch ihre Spuren sind unter Umständen noch präsent und existieren über den Tod hinaus (vgl. Plass-Fleßenkämper 2015). In „World of Warcraft“ wird toter Spieler gedacht (durch Monumente im Spiel aber auch in der echten Welt), der „Geist“ eines toten Vaters dreht nach wie vor seine Runden in einem Rennspiel, und Spieler des Online Rollenspiels „Eve Online“ werden im Spiel und teils auch durch ein Monument in Reykjavik verewigt (ebd.).


[1] Vgl. Simmonet, Olivier (2014):  Auf den Spuren der Hobbits 1- 5 (2014), WDR produziert für Arte,  Arte+7: 30.11-07.12.2014, http://www.arte.tv/guide/de/043554-006/auf-den-spuren-der-hobbits-1-5, 20.01.2015.

[2] Jedes Rollenspiel verfügt über ein Kampfsystem. Je nach Spiel handelt man in Echtzeit, d.h. durch zeitkritische Aktionen und geschickten Einsatz der Ausrüstung (z.B. wie bei „The Elder Scrolls V: Skyrim“) oder indirekt durch erteilen von einfachen Kommandos wie „Greife Feind X an“. „World of Warcraft“ verfügt, wie die meisten anderen MMORPG’s, über ein indirektes System.

[3] Arbeitssimulationen wie der „Landwirtschaftssimulator“ weisen ganz klar in diese Richtung. Aber auch in „The Elder Scrolls V: Skyrim“ kann man viel Zeit damit verbringen Felle zu gerben oder Erze zu schürfen und zu verarbeiten. Das erfordert viel Fleiß und Geduld und wird nicht adäquat durch das Spiel belohnt. Spiele müssen Kontrolliert werden und überschaubar sein. Man muss den Algorithmus verstehen und beherrschen. So kann man in einer kleinen reduzierten Version unserer Arbeitswelt stets die Kontrolle behalten und Einfluss nehmen. Etwas was in unserer Arbeitswelt kaum mehr möglich ist.

[4] Kulturlandschaft auch, jedoch ist diese über lange Zeiträume „gewachsen“. Evtl. eher zu vergleichen mit den künstlichen Ruinen der Landschaftsarchitektur des 19. Ihr.

[5] Vgl. Spiele wie „Gone Home“. Hier kehrt der Spieler nach einigen Jahren nach Hause zurück und trifft auf eine menschenleere Umgebung. Alles scheint so wie zum Beginn der Abreise. Die Narration übernimmt dabei die Umgebung. Der Spieler muss nach Hinweisen suchen die das verschwinden seiner Angehörigen erklärt, und ist dabei auf Interpretieren und Kombinieren der Umgebungen und Gegenstände angewiesen.

[6] Der Archäologe öffnet Erdschichten in denen keine Menschen, sondern nur ihre Hinterlassenschaften zu finden sind. Ein Raum, der je nach Situation seit Jahrhunderten kein aktives menschliches Eingreifen verbuchen konnte.